Was ist das Henese Fleck?

Neueste Kommentare

Keine Kommentare vorhanden.
Lebenswelten-Niederrhein

Wän et morjes dä Klüster sue öm seeven Uer tünt, dan mot minuetes ut di Bölt knuke. Dan schtröp minuetes hitsche in et Prötelstänt. Dan don isch jät Knöökert, jät Knöökert blaare on jät Fite möt knäbije Peäk, on dan schtrömt minuetes na aute: knöökele.  

(Wenn morgens die Uhr so um sieben schlägt, dann muss ich raus aus dem Bett. Dann gehe ich hier in die Küche. Dann trinke ich etwas Kaffee und esse etwas Butterbrot mit feiner Wurst, und dann gehe ich nach hinten: arbeiten.) 

So beschrieb ein Gärtner aus Breyell, heute ein Stadtteil Nettetals am Niederrhein, 1957 seinen Morgen. Doch bereits damals haben ihn nur wenige verstanden. Und heutzutage kennen wohl nur noch eine Handvoll Menschen diese geheimnisvolle Sprache. Es handelt sich um das sogenannte Henese Fleck – eine der ungewöhnlichsten Geheimsprachen in der gesamtdeutschen Geschichte. Eine Sprache, die von Krämern erfunden und genutzt wurde, die sich an das Rotwelsch (die Sprache der Bettler, des fahrenden Volkes und der Räuber) anlehnt und die von Liebhabern bis heute gepflegt und erweitert wird.  

Geheimnisvolle Anfänge einer geheimnisvollen Sprache 

Wo genau die Anfänge des Henese Fleck liegen, ist nicht zu sagen. Dies verwundert nicht, immerhin waren die Sprecher dieses Krämerlateins kaum des Schreibens und Lesens fähig. Schriftliche Quellen sind rar und damit die Rekonstruktion der Entstehungsgeschichte kaum möglich. Während Heinz-Joachim Graf in seinem Aufsatz “Der Henese Fleck. Eine alte Geheimsprache der Kiepenträger aus Breyell am linken Niederrhein.” im 23. Band der Schriftenreihe des Kreises Kempen-Krefeld aus dem Jahr 1974 die Sprache auf ein Alter von 200 – 300 Jahren schätzt, geht Peter Honnen im Jahr 1998 in seinem Buch “Geheimsprachen im Rheinland” von einem älteren Ursprung bereits im 16. Jahrhundert aus. Dies führt er auf das aufstrebende Handelssystem seit dieser Zeit zurück, welches die Entwicklung einer Geheimsprache wahrscheinlich machte. 

Doch auch wenn sich die Anfänge nicht festlegen lassen, so ist doch sicher, dass das Henese Fleck seine Hochzeit im 18. und 19. Jahrhundert hatte. Besonders soll sich ein gewisser Löchen Henken um die Sprache verdient gemacht haben. Der frühere Händler aus Breyell soll diese nicht nur selbst ausgesprochen gut gesprochen, sondern auch verbreitet haben.  

Breyell – die Stadt der Kiepenträger 

Doch wieso entwickelte sich das Henese Fleck überhaupt? Diese Frage lässt sich – wie eigentlich immer in der Geschichtswissenschaft – nur mit dem historischen Kontext erklären. Werfen wir dafür einen Blick auf den Entstehungsort des Henese Fleck: die ehemalige Gemeinde und den heutigen Teil der Stadt Nettetal “Breyell”. Heute – im Jahr 2024 – handelt es sich um einen unscheinbaren kleinen Ort, wie es ihn häufig am Niederrhein gibt. Mit ganz eigenen Bewohnern, einer winzigen Fußgängerzone und einer mehr oder weniger befahrenen Durchfahrtsstraße, von der aus 30er-Zonen zu beschaulichen Ein- oder Mehrfamilienhäusern führen. Natürlich ist der Ort umgeben von flachen Feldern, auf denen bei gutem Wetter viele Radfahrer anzutreffen sind. 

Doch was heute klein und beschaulich wirkt, gehörte zur Zeit der Entstehung des Henese Fleck zu den größeren Gemeinden der Umgebung. Immerhin zählte sie im Jahr 1800 3.658 Einwohner und damit anderthalbmal so viel wie Mönchengladbach und nur etwas weniger als Krefeld. Von den Einwohnern waren ein Drittel im Handel beschäftigt, was Breyell schon fast zu einer Art Metropole für Kaufleute im Rheinland machte. Es entwickelte sich zu einem der wichtigsten Märkte für Colonialwaren am Niederrhein: für reguläre Kramwaren, aber auch für Tabak, Branntwein, Kaffee, Fisch und Käse. Gerade durch die Grenznähe war die Gemeinde für den Handel prädestiniert. Ebenso wie für den Schmuggel, für den die sogenannten Hausierer (wie fahrende Händler auch genannt wurden) ebenfalls bekannt waren. Eine auf der einen Seite erfolgreiche Händler-, auf der anderen Seite aber auch spannende Untergrundgeschichte, auf die die Breyeller zurecht stolz sind. Bis heute ist der Kiepenträger – der Name für umherziehende Händler mit großen Körben auf dem Rücken – das Symbol der Gemeinde.  

Und ebenjene Händlerkultur führte zur Entstehung des Henese Fleck. Sie diente den Händlern dazu, sich untereinander unterhalten zu können, ohne das andere sie verstanden. Auf diese Weise konnten geheime Absprachen getroffen werden – und wie nützlich dies während Verhandlungen mit Dritten sein konnte, kann sich wohl jeder denken. Der wahrscheinliche Sinn der Geheimsprache erschließt sich damit auch aus einer weiteren Bezeichnung derselben: Krämerlatein.  

Aufbau und Beispiel des Henese Fleck aus Breyell am Niederrhein

Was das Henese Fleck besonders interessant macht, ist seine Einzigartigkeit innerhalb der Wortschöpfungen und des allgemeinen Sprachgebrauchs. Denn auch wenn die Sprache in der Literatur als “Rotwelschdialekt” bezeichnet wird, so weist sie doch kaum Bezüge zu der bekannten Gaunersprache auf. Ganz anders als viele weitere bekannte Geheimsprachen aus Deutschland. Das Henese Fleck enthält zudem auffällig viele Wörter, die ausschließlich in dieser Sprache vorkommen wie beispielsweise die Pronomen “minuetes” für “Ich” und “zinuetes” für “Du”. Auch die hohe Anzahl der enthaltenden Verben ist bemerkenswert, genauso wie von der Breyeller Mundart abgeleitete Wortschöpfungen. Alles gemeinsam macht das Henese Fleck besonders unverständlich, wodurch die Frage offenbleibt, ob es sich um eine natürlich entwickelte oder doch um eine konstruierte Sprache handelt.  

Doch ganz gleich, ob das Henese Fleck nun ein tatsächlicher Rotwelschdialekt ist, ob es in Wirtshäusern von Händlern ganz bewusst erfunden wurde (wie so manch unterhaltsame Legende berichtet) oder wie es auch sonst in die Welt gekommen sein mag, die Texte und Vorträge in der Geheimsprache sind unglaublich spannend. Hier ein weiteres Beispiel: 

On wäs äns en-en Bengk schtrömp no minuetes, dä jäen jät minuetes det vleke, dan knuk minuetes jene Knöökel mol, on dan schtrööm esch mötäm Bengk hitsche in-e Prötelstänt. Dan knug-esch en bischje Schrööm op dän Räfter, on dan wö-den ä poa Himkes jeplaart. Dat es no emer knäbij-es dat. Äf dat no eene Schroam äf part Schroam äf troom Schröem. 

(Und wenn mich mal ein Bekannter besucht, der etwas mit mir reden will, dann höre ich mit der Arbeit auf, und dann gehe ich mit dem Bekannten hier in die Küche. Dann stell ich ein bisschen Schnaps auf den Tisch, und dann werden ein paar Gläschen getrunken. Ob das nun eine Stunde, ob zwei, ob drei Stunden sind.) 

Eine Geheimsprache stirbt aus – und wird doch gepflegt 

Bereits im Jahr 1847 veröffentlichte Johann Heinrich Jansen eine erste Abhandlung zum Henese Fleck unter dem Titel “Schlüssel zum Krämerlatein”. Und schon in dieser Zeit war die Sprache laut Peter Honnen “tot”. Wie ein Dialog unter Breyeller Händlern ausgesehen haben mag, können sich heutzutage nur wenige vorstellen. Denn im Laufe der Zeit hat sich die Gruppe der Kenner des Henese Fleck kaum vergrößert, eher im Gegenteil. Und doch gibt es sie: Am 22. Januar 1938 gründete sich der Verein der Heimatfreunde Breyell “Henese Fleck”, der sich ganz besonders dem Erhalt und der Pflege der Geheimsprache widmet. Sogar bei YouTube findet sich ein Beitrag zu der Breyeller Geheimsprache, die damit im Digitalzeitalter angekommen ist. Und wenn sich immer weiter eine kleine, feine Gruppe mit so viel Heimatliebe findet, dann werden wir wohl noch lange vom Henese Fleck hören.  

Literatur

  • Peter Honnen, Geheimsprachen im Rheinland, Köln 1998.
  • Friedrich Kluge, Der Henese Fleck von Breyell, in: Beilage zur Allgemeinen Zeitung, München 1901.

Online

Video

Tags:

No responses yet

    Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert