Wie war das mit der Geburt am Niederrhein? 

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Lebenswelten-Niederrhein

In genau einer Woche ist Heiligabend. Und wie jedes Jahr feiern die Christen der Welt auch 2023 das Wunder der Geburt. Spätestens seitdem ich selbst Mutter bin, sehe ich die Weihnachtsgeschichte noch einmal mit ganz anderen Augen. Da muss eine hochschwangere Frau eine lange Reise antreten, ihr Kind in einem garantiert nicht sterilen Stall zur Welt bringen und sich direkt im Anschluss auf den Rücken eines Esels setzen. Was in der Bibel mit Gottes Hilfe natürlich gut ausgeht, war früher am Niederrhein nicht immer ein freudiges Ereignis.  

Doch wie verlief so eine Geburt in der Frühen Neuzeit am Niederrhein? Und was für Wunder und Glauben waren mit Geburten verbunden? 

Die Geburt – ein gefährliches Unterfangen für Mutter und Kind 

Was heutzutage durch moderne Medizin ein relativ sicheres und zum Großteil eines der schönsten Erlebnisse vieler Menschen ist, war noch bis in das 20. Jahrhundert hinein auch von Angst gekennzeichnet. Und gar nicht so selten war es sogar lebensgefährlich. Frühgeburten, Steißlage, verdrehte Nabelschnüre oder einfach mangelnde Hygiene – es gab zahlreiche Risiken für Mütter und Kinder während einer Geburt. Und selbst wenn der Geburtsvorgang an sich gut überstanden wurde, drohten den Wöchnerinnen Kindbettfieber und den Säuglingen der plötzliche Kindstod. Kein Wunder, dass Schwangere auch mit Sorge auf die Niederkunft warteten und dass in den Bildern der Kunst des Totentanzes seit dem 15. Jahrhundert auch immer wieder Mütter und Babys durch den Tod fortgeführt wurden. 

Ärztliche Unterstützung gab es bis in das 20. Jahrhundert hinein kaum während einer Geburt. Diese waren in der Regel reine Frauensache. Da kamen weibliche Verwandte, Nachbarinnen und natürlich die Hebamme, um sich um die Gebärende zu kümmern. Sie waren übrigens auch im Vorfeld dafür verantwortlich den Verlauf der Schwangerschaft durch Abtasten und Begutachtung zu begleiten. Setzten dann die Wehen ein, versammelten sich die Begleiterinnen um die künftige Mutter, besprachen das beste Vorgehen, standen ihr seelisch bei und unterstützten selbstverständlich durch mögliche Drehungen des Kindes, Drücken und Schieben und die allgemeine Versorgung von Mutter und Kind.  

War das Kind auf der Welt, waren es ebenfalls die Frauen, die sich weiter um das Wohl von Mutter und Kind sorgten. Sie wuschen das Neugeborene, wickelten es in Tücher und unterstützten bei dem ersten Anlegen an die Brust. Und genau wie heute, war bereits im 19. Jahrhundert die Ernährung der Kinder ein großes Thema. So schrieb Aloys Schmitz im Jahr 1871: “Die Neugeborenen werden fast ohne Ausnahme durch die Mutterbrust genährt. In unserer Zeit sind jedoch die wenigsten von den besseren Ständen angehörigen Frauen im Stande, ihr Kind selbst zu stillen. In den Fällen, wo die Individualität der Mutter es nicht gestattet, erhalten sie verdünnte Kuhmilch, selten Ziegenmilch, die in einer Saugflasche dargeboten wird; nebenbei wohl Milch mit Zwieback oder Weißbrot, oder Grütze mit Wasser gekocht, und erst in späteren Monaten die gewöhnliche Nahrung. Da es bei der künstlichen Ernährung häufig an der nötigen Reinlichkeit und Pünktlichkeit fehlt, so ist Darrsucht nicht selten die Folge davon.” Und eben diese Darrsucht wiederum findet sich als Todesursache in so manchem Totenschein von Säuglingen wieder. 

Der uralte Glaube an Quellen als Orte der Fruchtbarkeit 

Doch natürlich waren Schwangerschaften und Geburten auch mit Freude verbunden. Freude über ein neues Leben und über einen ganz neuen Menschen. Einen besonders schönen Brauch pflegten in der Frühen Neuzeit die Kinder am Niederrhein, wenn sich ein neues Geschwisterchen ankündigte. Denn diese waren keineswegs so aufgeklärt wie Kinder in der heutigen Zeit. Sie konnten sich nicht erklären, woher das neue Kind denn nun kam. Und da, wo heute die Geschichte des Storchs als Glücks- und Kindsbringer jedermann bekannt ist, galt lange Zeit das Wasser als Zeichen der Fruchtbarkeit.  

Wie das Neugeborene aus der Quelle nach Hause kam

So glaubten die Kinder, dass die neuen Geschwisterchen aus eben diesem Wasser kamen. War eine Frau guter Hoffnung und hatte sie bereits ältere Kinder, dann pilgerten sie und der Vater gemeinsam mit diesen zu einem Quellort. In Viersen-Süchteln gab es beispielsweise “ett Hellijepöttsche”, in Herongen den “Amanduspütt” und in Köln den “Kunnibetspütt”. Dem Glauben nach lagen die Neugeborenen am Grund dieser Quellen und mussten heraufgelockt werden. Die älteren Kinder warfen daher ein Zucker- oder Honigkuchenstück in das Wasser und beteten dabei. Jenes Baby, welches am Grund die Süßigkeit fing, wurde das neue Geschwisterchen. 

Doch wie gelangte das Neugeborene aus dem Wasser herauf und in das Haus der Familie? Auch dafür hatten die Kinder ihre ganz eigene Erklärung. Immerhin hatte die Hebamme immer einen Koffer dabei und sobald sie kam, war auch schon bald das neue Baby da. Es war demnach Aufgabe der Hebamme, das Baby aus dem Wasser zu holen und in ihrem Köfferchen in das neue Zuhause zu tragen. Ein andere Variante war der Glaube daran, dass die Hebamme die Neugeborenen aus hohlen Weiden oder hinter dem Palmstrauch hervorholte.  

Hin und wieder kam es auch vor, dass die älteren Kinder selbst ein Baby aus der Quelle “angeln” wollten. Agnes Neef-Winz erinnerte sich am 13. Juni 1938 in der Sendung “Wir suchen und sammeln” im Reichssender Köln: “Aber wir haben es auch heimlich versucht, selber ein Kindchen aus dem “Pöttschèn”-Brunnen zu angeln. Eine lange Schnur, an deren unterem Ende ein Stück Pfefferkuchen festgebunden war, wurde ins Wasser hinabgelassen. Wir lagen dabei auf dem Bauch, um gleich die geringste Bewegung des Wassers erspähen zu können.” 

Vom Pannèschteärtskè zum eigenen Namen 

War das Neugeborene auf der Welt wurde es am Niederrhein rund um Viersen als Pannèschteärtskè – Pfannenstielchen – bezeichnet. Denn den richtigen Namen bekam das Kind erst mit der Taufe. Und diese wurde aufgrund der hohen Säuglingssterblichkeit in der Frühen Neuzeit innerhalb weniger Tage nach der Geburt gefeiert. Zu groß war die Angst, dass das Kind ungetauft versterben könnte und somit auf ewig als verwirrte Seele umherirren müsste. So gaben die Paten der Mutter, welche nach der Geburt noch das Bett hüten musste und nicht zur Taufe mitgehen konnte, nach dieser das Baby mit den Worten zurück: “Wörr hannt è Haidenkengk möttjènoèmè, heij brängè wörr dich è Krestèkengk wièr” (Wir haben ein Heidenkind mitgenommen; hier bringen wir dir ein Christenkind zurück). Und so ist doch eigentlich jedes Kind ein Wunder – ein kleines Christkind. 

Literatur 

  • Helena Siemes, Gerd Philips, Kindheit am Niederrhein, Geburt – Erziehung – Schule – Spielwelten, Duisburg 2005.  
  • Willy Leson, So lebten Sie am Niederrhein, Köln 1980. 
  • Daniel Schäfer, Rheinische Hebammengeschichten im Kontext, Kölner Beiträge zu Geschichte und Ethik der Medizin, Band 1, Kassel 2010. 

Online

https://historisches-lexikon.li/Geburt

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