War Maria Lenssen Frauenrechtlerin?

Neueste Kommentare

Keine Kommentare vorhanden.
Niederrhein-Persönlichkeiten

Das Frauenbild im 19. Jahrhundert war bestimmt von Fremdbestimmung und Zurückhaltung. Zurückhaltung in der eigenen Entfaltung, in der Verwirklichung eigener Wünsche und in der Bildung. Zwar erhielten Mädchen eine Grundausbildung, doch weiterführende Schulen, Berufsausbildungen oder auch ein Studium galten als unnötig und gab es nur in absoluten Ausnahmefällen. Frauen hatten den Haushalt zu führen und die Kinder aufzuziehen.  

Zur gleichen Zeit zog es immer mehr Frauen in die neu entstehenden Fabriken. Dort wurden sie als Arbeitskräfte dringend benötigt. Dies ermöglichte ein eigenes Einkommen unabhängig von den wenig beliebten Arbeiten als Hausmädchen oder Wäscherin bei bessergestellten Familien, doch waren die Arbeitsbedingungen zum großen Teil katastrophal. Auch die Bezahlung lag deutlich unter der der männlichen Kollegen. Hinzu kam die Doppelbelastung durch Erwerbsarbeit und der Arbeit im eigenen Heim.  

Eine oftmals schwere Zeit für Frauen, in die Maria Lenssen hineingeboren wurde. Sie kam am 17. Juli 1836 in Rheydt zur Welt. Einer Stadt, die enorm von der Industrialisierung, insbesondere von der Textilindustrie, geprägt und sogar als rheinisches Manchester bezeichnet wurde.  

Doch wie beeinflusste ihre Umgebung das Leben von Maria Lenssen? Und was waren ihre Ziele? 

Maria Lenssen – ein Leben für die Frauenbildung 

Maria Lenssen kam aus gutem Hause, hatte familiäre Verbindungen in hohe politische Kreise Preußens. Sie konnte jederzeit auf finanzielle und gesellschaftliche Unterstützung ihrer Familie zählen. Bereits ihr Ur-Ur-Großvater machte sich in der Textilindustrie selbstständig. Ihr Großvater väterlicherseits war Bürgermeister von Rheydt, zwei ihrer Onkel mütterlicherseits bekleideten hohe Ministerposten in Berlin. Der Vater Marias wiederum war ein reicher Textilfabrikant. Was die gesamte Familie verbunden hatte, war ihre liberale Gesinnung. Und so zeigt sich, dass Maria Lenssen mit den besten Voraussetzungen für die Umsetzung ihrer hohen Ambitionen ins Leben startete. 

Über die Kinder- und Jugendjahre der Pionierin in der Frauenbildung ist nur wenig bekannt. Was wir wissen, ist, dass sie bereits als Jugendliche Unterricht in Handarbeiten gab. Durch eine Reise in die Schweiz lernte Maria den systematischen Handarbeitsunterricht kennen. Davon nahm sie zahlreiche Eindrücke und Ideen mit zurück nach Rheydt und ging erstmals mit ihrem Konzept an die Öffentlichkeit. Ab 1867 lehrte sie in einer Elementarschule in Heyden (heute Stadtteil von Mönchengladbach). Der Start einer wahren Erfolgsgeschichte. 

Eine Schule wird gegründet: Industrieschule zur Fortbildung in weiblichen Handarbeiten

Zwischen den Jahren 1867 und 1869 erhielt Maria Lenssen den Spitznamen, mit dem sie noch heute liebevoll betitelt wird: Strickfrau von Rheydt. Und sie setzte sich mit vollem Engagement für die Weiterentwicklung des Handarbeitsunterrichts ein. Durch große familiäre und öffentliche Unterstützung erreichte sie am 15. November 1869 die Gründung der “Industrieschule zur Fortbildung in weiblichen Handarbeiten”. Der Unterricht begann mit 7 Schülerinnen und einer Lehrerin am 3. Januar 1870 in den Fächern Wäschezuschneiden, Hand- und Maschinennähen sowie Weißsticken.  

Über die Jahre erweiterte die Schulleiterin laufend das Unterrichtsangebot und vergrößerte die Räumlichkeiten. Bereits 8 Jahre nach der Gründung hatte sich die Zahl der Schülerinnen auf 198 vergrößert. Nur 2 Jahre später bezog die Schule am 5. November 1880 das erste eigene Gebäude. Nun unter dem Namen “Industrie- und Fortbildungsschule für Frauen und Mädchen”. Es folgten neue Unterrichtsangebote in Schneiderei, Buntstickerei und ab 1878 in der Kaufmannslehre. Gerade letzteres erfreute sich großer Beliebtheit. Immerhin ermöglichte die kaufmännische Ausbildung nicht nur die Tätigkeit in einer der begehrten Buchhalterpositionen, sondern darüber hinaus die Führung eines eigenen Geschäfts und die Erleichterung in der Haushaltsführung. 1880 wurde schließlich der Unterricht in Turnen und Freiübungen eingeführt.  

Maria Lenssen kämpft für die Absicherung der Schule

Bereits vor der Gründung der Schule zeigte Maria Lenssen ihr Talent als Netzwerkerin und ihre Durchsetzungskraft. Geschickt brachte sie die notwendigen Personen zusammen, sammelte Gelder und betrieb Öffentlichkeitsarbeit. Immerhin hatte sie dauerhaft gegen ihren Zeitgeist zu kämpfen. Und der sah keine schulische Weiterbildung oder Ausbildungen für Frauen vor. Dieser Kampf zog sich durch die gesamte Schulleiterschaft von Maria Lenssen. Einer ihrer wichtigsten Pläne war daher die Übergabe der Schule in städtische Hände. So wäre die Zukunft der Lehranstalt gesichert.  

Doch dieses Ziel sollte die Schulleiterin verfehlen – und stattdessen ein besseres erreichen. Im Jahr 1902 übernahm der preußische Staat am 6. Oktober die Schule. Maria Lenssen übertrug sie in einem Festakt als Schenkung an Preußen und erreichte gleichzeitig die Fortführung des Schullebens genau nach ihrem Sinn. Natürlich sicherte sie sich zeitlebens Sitz und Stimme im neu eingerichteten Kuratorium. So ganz konnte sie die Schule nicht loslassen. 

Pragmatisch oder visionär? Was waren die Ziele von Maria Lenssen?

Doch während wir biografisch bereits bei Maria Lenssens Austritt aus der Schule angekommen sind, ist es höchste Zeit, einen Blick auf ihr Wesen und ihre Ziele zu werfen. Was veranlasste sie zur Gründung der Schule?  

Wie wir bereits gehört haben, setzte sich die Strickfrau von Rheydt seit jüngster Jugend für die Fortbildung in den weiblichen Handarbeiten ein. Ihre genauen Motive sind dabei aufgrund der Quellenlage kaum nachzuvollziehen. Es liegt jedoch nahe, dass sie die praktische Verbesserung der Lebensbedingungen der Frauen anstrebte. Und dazu gehörte für Maria Lenssen nicht ausschließlich die Möglichkeit einer selbstständigen oder höherwertigen Erwerbsarbeit, sondern zusätzlich die Möglichkeit einen Haushalt gekonnt zu führen.  

Konnte beispielsweise ein Kleid selbst hergestellt werden, musste dieses nicht teuer beim Schneider erworben werden. Konnte eine Hausfrau Kleidungsstücke geschickt flicken, sparte ihr dies viel Zeit. Und auch ein gut geführtes Haushaltsbuch half im Alltag. Diese Beispiele zeigen, dass auch Hausfrauen von dem Lehrangebot der Industrieschule zur Fortbildung in weiblichen Handarbeiten profitierten.  

Einen besonderen Platz nahmen für Maria Lenssen jedoch immer die Arbeiterinnen ein. Sie bestand auf einen gemeinsamen Unterricht von niederen und höheren Töchtern und passte das Schulgeld dem Einkommen der Familien der Frauen an. Damit setzte sie nicht nur ein klares Zeichen für Chancengleichheit von Männern und Frauen, sondern auch von unterschiedlichen Herkunftssituationen. Ein Ansatz, der in ihrer Zeit geradezu einmalig war.  

Und doch bleibt stets zu bedenken, dass Verbindungen von Maria Lenssen zu den aufkommenden Frauenbewegungen in Deutschland nicht gesichert belegbar sind. Wir können davon ausgehen, dass sie mit ihren engen Verbindungen nach Berlin und in die politischen Kreise von diesen gehört haben muss. Selbst aktiv war sie wahrscheinlich nicht. Zwar strebte sie nach besseren Lebensbedingungen für Frauen, doch fehlen klare Belege für große Visionen. Sie blieb ihr Leben lang den preußischen Tugenden wie Strenge, Fleiß und Ordnung verbunden und sah höchstwahrscheinlich die Verbesserungen ausschließlich innerhalb ihrer Lebenswirklichkeit. Träume von Gleichstellung, identischer Bezahlung und Frauen in Leitungspositionen sind in den überlieferten Quellen nicht zu finden. 

Einsatz bis zum Schluss 

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Frauenbildung allmählich stärker gefördert. Frauen wurden zum Studium zugelassen, Ausbildungsmöglichkeiten geschaffen und die bis dahin häufig privaten Initiativen wurden immer mehr verstaatlicht. Eine Entwicklung, die Maria Lenssen mit Sicherheit mit großer Freude beobachtete.  

Sie selbst blieb nicht nur ihrer Schule lebenslang eng verbunden. Sie setzte sich zusätzlich in der Frauenhilfe ein und wurde Vorsitzende dieses Vereins in Rheydt. Für ihr Lebenswerk wurde sie am 11. April 1913 zur Ehrenbürgerin von Rheydt erklärt. Die erste und bis heute einzige Frau, die diesen Titel führen durfte. Nur einen Tag später feierte die von ihr gegründete Schule ein großes Einweihungsfest neu errichteter Gebäude auf dem Schulgelände. Bei diesem sprach auch Maria Lenssen und wandte sich in erster Linie an die Schülerinnen. Die Rede zeugte erneut von ihrer Tatkraft, aber auch von ihren hohen Ansprüchen und ihrer Demut, indem sie die Frauen deutlich aufforderte: “Vergesst das Danken nicht.” 

Maria Lenssen starb am 1. März 1919 im Alter von 83 Jahren nach kurzer Krankheit. Bis zum Schluss war sie immer wieder in ihrer Schule zu sehen, zeigte sie starkes Interesse an den Schülerinnen. Ihr Begräbnis wurde von einem großen Trauerzug begleitet. Beigesetzt wurde sie in der Gruft der Familie Lenssen auf dem evangelischen Friedhof in Rheydt. Die Schleife für ihren Grabkranz hatte sie übrigens selbst noch zu Lebzeiten an der “Industrie- und Fortbildungsschule für Mädchen und Frauen” sticken lassen. Auf ihr stand geschrieben: “Haltet mich nicht auf, der Herr gab Gnade zu meiner Reise. 1 Mose 24 V 56”. 

Literatur

  • Volker Woschnik, Jan Wucherpfennig, Zeugen städtischer Vergangenheit, Band 23: Maria Lenssen, Mönchengladbach 2005

Online

Bildnachweise

  • Stadtarchiv Mönchengladbach, Public domain, via Wikimedia Commons
  • Käthe und Bernd Limburg, www.limburg-bernd.de
  • https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/thumb/0/03/Grab_Maria_Lenssen%2C_Rheydt.jpg/1599px-Grab_Maria_Lenssen%2C_Rheydt.jpg?20210526124832

Tags:

No responses yet

    Schreibe einen Kommentar

    Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert